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Shortcuts – Zug

Der Junge, der viel zu weich ist für seine zur Schau getragene Härte, so wie der junge Held in diesem französischen Film, der das nicht hören will, wenn er gesagt kriegt, es gebe immer einen Grund für einen neuen Anfang, und jetzt fragt er mich nach einem Stift, er sieht doch, dass ich damit arbeite und ich sage: Aber nur kurz, ich muß das hier aufschreiben.

Der dicke Mann, die Halbglatze, der breite Krawattenknoten, die schwere Uhr, der Atem. Er schläft, er meditiert, mit dem Daumen am Zeigenfinger, er schielt hinüber, den Kopf nach hinten ans Polster gelehnt, zu der jungen Frau, er atmet: schwer, tief, allein.

Der Student, übriggeblieben aus den Siebzigern vielleicht, der aussieht, ein wenig, wie Ulrich Roski, und der der mit ihm aussteigenden Frau einen versierten und detailreichen und nicht enden wollenden und ausschmückenden und treffenden und richtigen und vollständigen Vortrag hält über Bahnverbindungen und Anschlüsse und den neuen Fahrplan und die Preise und Tarifgebiete, die hineinreichen, ineinander und nebeneinander, wie die Waben, und das alles nur, um ihr zu sagen, das sich auf ihrer Strecke sowieso nichts ändert und da bleibt alles wie immer, und der beim Aufstehen sagt: Tschüssi dann, und sie sagt nix.

Aus den Reisetagebüchern

Fish and Chips sind kleine Läuse, die die Magenwand bewohnen wollen – für immer. Die Zeitung, in der sie gereicht wurden, verheißt nichts Gutes. Weiter nach Island? Wärmere Gefilde? Hmmm. Kommt Zeit, kommt Fahrt.

Briefträger will ich hier aber auch nicht sein: Ein Postschiff Richtung Bergen. Treibendes Eis, treibendes Schiff, treibendes Treiben. Wer will hier oben überhaupt Briefe lesen? Das Licht geht nicht aus und man kriegt kein Auge zu.

Kaffee mit dem Käptn. Er gesteht, dass er sich bei der Navigation vertan hat. Daher also die grünen Wiesen und Schafe an der Küstenlinie, wo eigentlich Rentiere und Robben rumlungern sollten. Nun, kann man nix machen, sagt der alte Seebär, schmökt an seinem Alabasterprfeifchen und ruft über die Brücke: Scharf Backbord, hab ich doch gesagt, du Luder, Alter!

Vorraussichtlich landet das Flugeug in Helsinki? Schön, dass man das auch mal erfährt! Ich öffne noch ein weiteres Fläschchen des umsonst angebotenen finnischen Wodkas und proste den beiden Japanerinnen zu, die mir mit ihrer schlimmen Zahnsituation schon seit dem Start verschämt zulächeln.

Die Japanerinnen haben sich verabschiedet – hoffentlich in eine Zahnklinik. Es ist schon Morgen, ich bin fast allein in der Bar des T.W.Adorno-Airport Helsinki hängen geblieben. Auch kein Zuckerschlecken. In Eis ist hier am Rollfeld das Adorno-Zitat eingeschlagen: »Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle«. Ach ja, Theodor, der alte Finne. Höllekün köllekün!

Rückert würde sagen: Ich bin der Welt abhanden gekommen. Und Mahler wüßte auch schon gleich ne Melodie dazu … Gestrandet in der finnischen Hauptstadt tröste ich mich mit der langhaarigen Übersetzerin: Gemeinsam Taxi gefahren, Stuben voller Alkoholiker besucht, Wodka in 100-Gramm-Portionen gekauft und getrunken. Der nächste Schlitten Richtung Petersburg geht morgen. Hoffentlich.

Die Hunde sind gesattelt, der Schlitten ist geschmiert. Auf geht’s nach Dostojewskihausen.

Am Schlittenparkplatz wartet R. R. Raskolnikow auf mich. In der Hand immer noch die Axt, dieser unverbesserliche Schlingel. Tz tz tz tz … Wir gehen erstmal etwas durch die Stadt, er zeigt mir zwei der drei wichtigen Sehenswürdigkeiten. St. Leningrad ist kalt, sehr kalt, mein eben erst von hübschen Frauen gelerntes Finnisch nutzt mir hier gar nichts. Schade eigentlich.

Drei Tage in der »Linguistischen Klinik« Wuppertal sind auch kein Zuckerschlecken. Ich war am akuten Gerundiv erkrankt und musste mich einer Art Rosskur mit hochpräsenten Partizipien unterziehen. Brrrrrr. Jetzt gehts’s aber wieder, ich kann schon wieder nach Schreibmaschinen fragen und den Fortgang der Reise planen. Ahoi, Kameraden!

»Radevormwald« ist auch bloß so ein Wort. Bin direkt weitergefahren. »Hameln« und »Winterberg« links liegen gelassen. Lediglich »Züschen« und »Weinheim a.d. Weinstraße« konnten kurz begeistern. Das Motorrad rollt durch 20 cm Horrorschnee, die Sonne blendet frontal von vorn – dass dagegen noch niemand was erfunden hat. »Merkel nennt es Krieg«, titelt die FASZ. Na, dann …