Kleinstadtblues, der
(nicht zu verwechseln mit Kleinstadtbluse oder Kleinstadtbus)
bezeichnet die Traurigkeit von Kleinstädten, die an ihren überqualifizierten Einwohnern verzweifeln. Der Kleinstadtblues verstimmt die davon betroffenen Gemeinden und führt zu unterschiedlich starken Abstoßungsreaktionen. So verknappen die Kleinstädte etwa die Anzahl und Qualität guter Cafés, schließen Programmkinos aus heiterem Himmel, lassen doofe einfache Leute auch doof und einfach aussehen – und unternehmen überhaupt alles, was dann zwangsläufig irgendwann zu Erektionsstörungen führen musste, war ja klar!!!
Archiv der Kategorie: Geschrieben
Hat jemand Feuer?
Heut möchte ich der schnöden Welt entfliehen.
Nichts ist hier stimmig, alles mir verhasst.
Das einzige, was heut tatsächlich passt:
An der Tür zum Raucherraum steht »Ziehen«.
Matt
Mein Gegenüber im Abteil trägt Brille, Bart und Parka und ist vertieft in seine Reiselektüre. Ich werde langsam neidisch, denn ich habe zwar einen zerlesenen Robert-Gernhardt-Gedichtband dabei und muss ab und zu freudig schmunzeln – er aber blickt immer wieder konzentriert in sein Buch, blättert aufgeregt vor und zurück. Dann gluckst es plötzlich stumm aus ihm heraus, oder er schmeisst ansatzlos den Kopf nach hinten und kräht sein studentisches Hühnerlachen in den Waggon. Mensch, was liest denn der da eigentlich? Ich will das auch haben! Sofort!! Und stelle mit einem unauffälligen Blick fest, dass ich mir dann wohl im nächsten Bahnhof »Die 100 bedeutendsten Schach-Partien« kaufen muss.
Des Direktors Faust aufn Tisch!
Der Torten sind genug gegessen,
lasst mich auch endlich Braten sehn!
morgen wieder
heut gibt es kein gedicht
ich krieg heut keines raus
das reimen geht heut schlecht
es macht auch keinen sinn
Ja, das wollen wir, hat sie gesagt
Die Vögel singen »Liebe, Liebe«.
Wollen wir als Sommerdiebe
morgen unsern Tag verbringen?
Wollen wir, vom Weltgetriebe
fern, auf unsern weichen Schwingen
morgen mit den Vögeln singen?
Pelle ist Blutwurst
(Ein Stoßgebet)
Warum wollen stets die alten
Herrn mit ihren tattrig kalten
Fingern mir an meinen Pimmel,
lieber guter Gott im Himmel?
Alle gehn mir in die Hose,
haben Religionsphimose,
scheißen was auf meinen Willen,
wollen ihren Glauben stillen,
machen einen großen Tanz,
um den kleinen goldnen Schwanz:
Vorhaut hin, Vorhaut her,
Vorhaut weg – das ist nicht schwer.
»Doch ihr kriegt mich nicht, ihr Greise«,
schwöre ich mir flüsterleise,
während ihr euch mit Narkose
Wege bahnt in meine Hose.
Wartet nur! Denn meine Rache
die wird groß sein. Feine Sache:
Bald schon mit dem langen Messer
holt euch mein Freund Pimmelfresser.
Schneidet euch dann alles ab!
Vorhaut reicht ihm nicht. Ein Happ –
er frisst’s auf, mit Stumpf und Stiel.
So geht Religionsgefühl!
Alle eure Paradiese,
Aug um Auge, dieser miese
ganze Dreck, das Heilsversprechen,
dafür werde ich mich rächen.
Und als freier junger Mann,
werd ich wichsen, was ich kann.
Lächelnd und mit Handgeschmeichel
huldige ich nur Sankt Eichel.
Der Wille zum Glück – aus dem Gesamtwerk
Wenn man den Bekenntnissen des Hochstaplers Glauben schenken darf, hatten Thomas und seine Brüder schön früh das Spiel »Herr und Huhn« erfunden. Dazu benötigten sie lediglich ein in Venedig verstorbenes Huhn, dem auch Dr. Faustus und der Zauberzwerg nun nicht mehr helfen konnten: Mit Gefallen öffneten die Hungernden das Huhn am Küchentisch und versuchten, aus den Innereien die Anzahl der zukünftig erreichbaren Nobelpreise herauszulesen. Oft führten die Voraussagen zu übermäßiger Enttäuschung, in der Mehrzahl jedoch lediglich zu Unordnung und frühem Leid. Der kleine Herr Friedemann durfte bei diesem Spiel nie mitmachen, da halfen auch Marion und der Zauderer nicht weiter.
Am Morgen
Die Sonne scheint, der Hafer sticht,
doch ich bin bloß auf Schlaf erpicht.
Mich lockt nicht Leben, nicht Aktion,
mich lockt das Bett, dem ich entfloh’n.
Die Sonne sticht, der Hafer scheint.
Das ist ja sicher gut gemeint,
doch: Schlafwunsch herrscht in meiner Omme.
Du liebes, warmes Bett, ich komme!
Drei Narben: Kinn
1972
Vater schenkte mir die Schuhe,
band sie mir in aller Ruhe
an die Füßlein. »So mein Sohn,
roll mal schön! Du machst das schon!«
Machte ich auch. Ohne Bange
rollte ich zur Wäschestange
knallte kinnwärts mit Krawumm –
Narbe 1. Mein Schädel: Brumm!
1973
Sohn – da wäre ich ein schlechter,
wäre ich nicht auch ein rechter
Hasardeur in Fahrradfragen.
Ließ mich flott hangabwärts tragen,
unten stand mein großer Bruder.
Ich die Hände voll vom Ruder:
»Hallo Bruder!«, Lenker quer –
Narbe 2, na bitte sehr!
1974
»Heilger Geist!« So rief die Mutter,
weil ich mich, als wärs auf Butter,
mit dem Skateboard tüchtig schrägte,
als ich um die Kurve sägte
und dabei den Bordsteinrand
voll verfehlte. Dafür fand
ich gradeaus den Lampenmast –
Kinn voll drauf, die Narbe passt.
Moral
Einmal nähte man das Kinn.
Einmal klebte man es hin.
Einmal wurde es geklammert.
Immer habe ich gejammert.
Dreimal auf auf dieselbe Stelle,
heut noch findet man die Delle.
Soviel Kinderblödigkeit:
Narbige Dreifaltigkeit!