Archiv der Kategorie: Gelesen

Arno Schmidt: Hat unsere Jugend noch Ideale?

‹Ideal› – auch eines jener, uns um eine entscheidende Spur zu oft offerierten großen Worte, die uns so unglücklich machen!

Und zwar deshalb, weil sich die meisten davon in späteren Jahren als absurd, wenn nicht gar gemeingefährlich entpuppen – etwa das ‹Ideal› des ‹Helden›; harmlosestenfalls hohle Nüsse, mit Spinnweben gefüllt.

Wenn ich der Truggestalten gedenke, die man erzieherischerseits an den Horizonten meiner Jugend als ‹Ideale› herumspuken lassen wollte – der ‹Mannhaftigkeit›, die sich dann grinsend als reinrassige Brutalität demaskierte; oder des ‹Genies›, des angeblich so schändlich begabten, daß es kaum noch zu arbeiten brauchte; und all das verkündet von dubiosesten Gehrockträgern – wenn ich all das bedenke, könnte ich nur begrüßen, wenn unsere heutige Jugend nicht mehr mit Idealen gefoppt würde; nicht mehr wertvolle Stunden mit dergleichen süßen Nichtigkeiten vertäte. Wenn!

Weiter gehts hier: http://www.arno-schmidt-stiftung.de/arno/2_05.html

W-A-F-E-L

Mein Vorschlag für den Namen dieser Verfassung lautet WAFEL (Water-Air-Fire-Earth-Living). Auf der Grundlage einer solchen Verfassung ließe sich ein Gericht einberufen, eine juridische Instanz, ähnlich dem bestehenden Internationalen Strafgerichtshof, die im Namen des betroffenen Elements gegen solche Unfälle beziehungsweise Anschläge auf den Planeten angehen könnte. Der Kläger wäre in diesem Fall der Golf von Mexiko. Er würde sich auf ein Naturrecht berufen, das ganz wie das heutige Menschenrecht ein Grundrecht wäre. Dafür bräuchte es nur einen Vertrag, einen allgemeinen Waffenstillstand in diesem Krieg, den wir gegen den Planeten führen.

Michel Serres, taz vom 30.7.2010

Rilke rät

»Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen.«

Rainer Maria Rilke: Brief an einen jungen Dichter
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903

Klavierkonzert das 1., purer Zufall

»Weißt du, Andrea, als dein Bruder Francesco klein war, hatte er große Angst vor dem Einsatz der Pauken in Brahms’ erstem Klavierkonzert. Eines Tages suchte er eines von seinen Walt-Disney-Videos und schob aus Versehen eine Kassette in der Rekorder, auf der kein Zeichentrickfilm war. Es war eine Aufzeichnung des Brahms-Konzertes. Am Dirigentenpult Leonard Bernstein, am Klavier Krystian Zimerman, ein ausgezeichneter und schon sehr berühmter junger polnischer Pianist. Es spielten die Wiener Philharmoniker.

Ich weiß noch, daß ich im Nebenzimmer war, als im Fernseher plötzlich die Pauken ertönten. Mir war klar, daß dein Bruder die Kassetten verwechselt hatte. Ich stand auf, um nachzusehen, ob er sich erschreckt hatte und ich vielleicht eine andere Kassette für ihn einlegen sollte, zumal der Fernseher sehr laut eingestellt war. Doch als ich zu Francesco kam, wirkte er nicht ängstlich wie sonst, sondern schaute sich fasziniert das Konzert an. Fasziniert von den Bewegungen des Orchesters, besonders der Geiger. Und wenig später auch fasziniert vom Einsatz des Klaviers, der in scharfem Kontrast zum Beginn des Konzerts steht.«

Roberto Cotroneo: Frag mich, wer die Beatles sind,
Insel Verlag 2006

Aristoteles aber sagt:

»wenn nun der wahrnimmt, der sieht, daß er sieht, und hört, daß er hört, und als Gehender wahrnimmt, daß er geht, und wenn es bei allem anderen ebenso eine Wahrnehmung davon gibt, daß wir tätig sind, so daß wir also wahrnehmen, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken: und daß wir wahrnehmen und denken, ist uns ein Zeichen, daß wir sind (…)«.


Aristoteles:
Nikomachische Ethik IX 9, 1170a28ff. (Übers. O. Gigon)

Alle Siege sind traurig


SZ:
Für den großen Skeptiker E.M. Cioran gibt es drei Formen der europäischen Traurigkeit, die portugiesische, die russische und die ungarische. Welcher Form der Traurigkeit fühlen Sie sich am stärksten verbunden?

Kraznahorkai: Der dänischen, falls es sie gibt, denn mir sind alle Formen der Traurigkeit sehr sympathisch. In der Traurigkeit erscheinen die Dinge in einer schmerzhaften Schönheit. Zwischen allen Formen der Schönheit steht mir die in der Traurigkeit auftauchende Schönheit am nächsten. Es ist schwierig zu sagen warum. Die in der Freude erscheinende Schönheit hängt für mich sehr eng mit dem Sieg und mit dem Gewinner zusammen, und ich kann weder mit dem Sieg noch mit dem Gewinner etwas anfangen. Ich verstehe den Sieg eigentlich nicht. Die Schönheit des Lächelns des Gewinners sagt mir nichts. Alle Siege sind traurig.


Der ungarische Schriftsteller László Kraznahorkai im Gespräch mit Klaus Dermutz
Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 2. Juli 2010