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Suisse revisited 09 – over and out

Brunnen, Zentralschweiz, 30.7.

21.00 Uhr
Der Softeis-Mann am Kai. Dick. Weißes T-Shirt, weiße Schürze, ebensolches Käppi. Er bedient zwei Eis-Automaten gleichzeitig am Geländer auf der linken Kaiseite. Gerade schaltet er die kleine Lichterkette ein. Gestern schlängelte sie sich über beide arbeitsversklavte Maschinen. Nun leuchtet und blinkt und lichtläuft sie zur Spirale gedreht und verwurstelt nur über dem linken der beiden Lufteisproduktionsmittel. Dieweil sitzt er auf einer Bank. Breit, braun, wissend, die Hände im Schoß, betrachtet er die potentielle Laufkundschaft auf der Promenade. Seine Automaten sehen sehr nach Glückspiel aus.
Da steht er auf, die Hände in die Taschen unter der Schürze geschoben, den Kopf leicht schief, die Melancholie seines Berufstandes darstellend, und erklärt dann doch plötzlich mit ausgestrecktem sichern Arm zwei spazierenden Tamilen den rechten Weg – wahrscheinlich den aus der Schweiz hinaus.
Notiz: So ist das also. Angie ist fort und ich unterhalte mich mit einem kleinen schwarzen Notizbuch.

Suisse revisited 08

Brunnen, Zentralschweiz, 29.7.

19.00 Uhr
Aha: Im Hotel wird also jeden Morgen der Anfang des Toilettenpapiers zu einer Spitze gefaltet.
Der See ist aufgerauht jetzt. Starker Wind. Dunkeltürkis und Grün wechseln einander ab. Wellen schlagen an den Kai, rauschen wie in einer Muschel im Meer an meinem Ohr.
Hinten zum Gotthard, zu den Riesen hin, wird alles graue und eintönige Pampe. Schemen von Bergen, die von dieser Masse noch nicht überzogen sind. Nun wirken die großen Gesellen bedrohlicher als sonst.
Hoppla: 10 Sekunden nicht hingeschaut – und schon ist aus der mächtigen, voluminösen, von hinten mit hellem Sonnenstrahl angeleuchteten Wolke, die mehr ein Prototyp aller Wolken ist – schon ist aus ihr ein grauer, eindimensionaler Schmierfleck geworden. Löschpapier-Einsatz!

Suisse revisited 07

Brunnen, Zentralschweiz, 30.7.

14.00 Uhr
Noch zwei Tage bis Buffalo. Fahnenzunahme. Der Anblick erinnert mich an Rot-Kreuz-Stationen, nur andersrum. Es riecht nach Sommer. Unter Benutzung meiner beiden Beine, die jetzt im Zug nach Vitznau hinunter leicht schmerzen – unter Benutzung also meiner beiden Beine bin ich von Wiggens zur Rigi-Spitze 1.400 Höhenmeter hinaufgestiegen. Anfangs romantisch: im steilen kühlen Wald, Treppen und Leitern teils hinauf, kurze Grüezi-Begegnungen in schattenspendenden Felsspalten. Später tourismusorientiert: auf steilen Asphaltwegen, freundliche Japaner mir entgegenkommend, vom Gipfel schon herunter. Auf halber Höhe, noch in den Waldausläufern, war ich in die Wolken hineingegangen. Fetzen erst, kühl am nackten Oberkörper. Auf einer Wiese gesessen, ins milchige Nichts gesehen, das immer 10 Meter von mir entfernt war, wo ich auch hinschaute. Kurzes Aufreißen und der Blick hinab aufs Wasser, flach zwischen die weichen Berge hineingelaufen, blau mit weißen Schiffstupfern. Friedliche Stille, nicht mal ein Tuten bis hier oben.
Kuhglockenläuten.
Oben am Gipfel dann neben Funkmasten und dem abseits stehenden Gipfelkreuz keine Aussicht gehabt. Schade. Alle Müh umsonst.

Suisse revisited 06

Brunnen, Zentralschweiz, 29.7.

20.00 Uhr
Die Wolken verkrümeln sich von den Berggipfeln. Es bleiben kleine abgerissene Fusel an den Spitzen hängen, die nach und nach sich auflösen. Zuckerwatte im Mund, ohne dass man was dazu tun muss. Akkordeonmusik vom Gartenrestaurant nebenan.
Windstille. Wenn ein abfahrendes Motorboot weit genug vom Ufer entfernt ist und beschleunigt, breitet sich der Schall ohne Mühe auf dem Wasser aus und wird allgegenwärtig, kriecht über den See, so wie jetzt die letzten Akkordeonklänge.
Die Gipfel tragen pastellfarbene Schneeflecken. Juli. Der mysteriöse Ewige Schnee aus dem Sachkunde-Unterricht. Die Berge sind hoch. Hinten, weit weg, am Ende des Sees mag man sie wirklich Alpen nennen und dann kommt schon der Gotthard und dann bald Italien.
Dunst. Nach und nach ziehen sich die Berge zurück. Wie Schnauzen großer Tiere verschwinden sie im blaurosa Nebel. Lichter an der Straße drüben am Hang. Ein Hotel hoch obern über dem See. Die paar Hütten auf den Rückenkuppen. Die entfernten Anlegestellen Tells-Platte und Rütli.
Hinter mir promenieren Stimmen, die ich nicht verstehe. Italiener, Franzosen, Amerikaner. Schweizer. Schlurfen, schlendern. Promenadenmischung. Alte Leute meist, jenseits der Sechzig. Der Fimmel donnert. Flugzeug.
Der See ist beinah vollkommen ruhig jetzt. Hinter der kleinen Mauer leichte Wellen, feine Rippen, Strukturen, kaum hörbar am Ufer. Weiter hinten wird das Wasser zu einer hellen Fläche, unterbrochen von dunklen waagerechten Streifen, die vom Ufer aus hineinragen. Muster, das es nicht gibt. Struktur aus Licht und Bewegung.
Zuggeräusche. Ein heller Wurm stiehlt sich in den Berg, dort wo für ihn ein Schlund gehauen wurde.

Suisse revisited 05

Brunnen, Zentralschweiz, 29.7.

18.30 Uhr
Komisches Gefühl. Das Restaurant, in dem ich zu speisen gedenke, wird von all jenen Leuten gemieden, die sich für die neben mir angebrachte, für mich jedoch nicht lesbare Speisenkarte interessiert haben. Na, dann eben erst mal noch ein Espresso und ein Mineral.
Ein kleines rothaariges Mädchen sagt nach kurzem Betrachten der Fische im draußen stehenden Aquarium zur Mutter: Weißt Du was, am liebsten möcht ich die jetzt alle da rein rauslassen, und zeigt auf den See.
Am Tisch schräg links hinter mir sitzt Harvey Keitel. Ok – er ist inkognito als Schweizer unterwegs: ganz in Weiß, blondgrau gefärbte Haare, Goldkettchen … aber seine Augen verraten ihn. Das nervöse Herumspielen mit dem Zippo-Feuerzeug. Und die Knollennase. Noch benimmt er sich wie ein älterer Schweizer Herr, der seine Liebste zum Essen ausgeführt hat – aber im nächsten Moment schon wird er zum Plastikbeutel in seiner Hemdtasche greifen, das weiße Pulver daraus gekonnt zu einer feinen Linie zusammenschieben, und es in seinen unglaublichen Riechkolben raufziehen.
Notiz: Die dicke junge Mutter, die nach dem großen Eisbecher nicht glücklicher aussieht als vorher.

Suisse revisited 04

Vierwaldstättersee, 29.7.

15.45 Uhr
Ein Ausflugsdampfer als historisches Teleskop: Was einem im Leben alles noch bevorsteht. Orthopädische Schuhe. Falsch sitzende Toupets. Das Gefühl, der Bauchansatz bleibe so für immer. Zwei lachende schweizer Ehepaare, in jungen Jahren schon darauf bedacht, auszusehen wie ihre Eltern.
Trotzdem abwegige Erkenntnis: Viele Frauen, die mir gefallen, sehen aus wie Schweizerinnen.